Geschichte der Pressefreiheit
„Sie sind jetzt hier der Verleger“, sagen zwei amerikanische Presseoffiziere dem 68-jährigen Heinrich Hollands. Der Maschinensetzer steht etwas verlegen da, mit einer Mütze in der Hand, und reißt erstaunt die Augen hinter dicken Brillengläsern auf. Im Druckhaus an der Theaterstraße in Aachen sind die Amerikaner auf der Suche nach einem Verlagsleiter für die erste deutsche Nachkriegszeitung, im Januar 1945 auf den ehemaligen Gewerkschafter und Sozialdemokraten gestoßen.
Die „Aachener Nachrichten“ haben eine besondere Stellung im deutschen Zeitungsmarkt: Das Blatt war die erste Zeitung in Deutschland, die unabhängig von der Pressepolitik der Nazis noch während des Krieges erscheinen konnte. Unter der Kontrolle der Alliierten Truppen erschien in der britischen Zone bereits am 24. Januar 1945, drei Monate vor Kriegsende, die erste Ausgabe der „Aachener Nachrichten in einer zerstörten, fast toten Stadt. Die Bevölkerung in den Trümmern hungert – auch nach Informationen. Elftausend Menschen überleben bei Temperaturen von minus 20 Grad den kalten Monat Januar. Nur wenige Kilometer weiter tobt der Krieg in der Eifel und am Rhein. Amerikanische Divisionen rücken vor und besetzen Dorf um Dorf, Stadt um Stadt.
Am 8. Mai erscheint die Nummer 16 der „Aachener Nachrichten“ mit der über alle Spalten laufenden Schlagzeile „Der Krieg ist aus!“. Gestaltet und umbrochen hat die Titelseite der 27-jährige Journalist Otto Pesch, Sohn eines Zeitungsverlegers aus Gie-senbach bei Mönchengladbach. Jetzt (27. Juni 1945) holt die amerikanische Militärregierung eine offizielle Genehmigung der Zeitung nach und vergibt die „License No. 1“. General A. McClure händigt Heinrich Hollands die „Erlaubnis zur Herausgabe einer deutschen Zeitung in der britisch-amerikanischen Besatzungszone“ aus.
Die erste Lizenz der amerikanischen Militärverwaltung wird am 1. August 1945 an die „Frankfurter Rundschau“ vergeben. Sie basierte auf der Lizenz Nr. 2 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung, war je-doch die erste im amerikanisch besetzten Gebiet.
Mit diesen Lizenzvergaben begann eine Stunde Null in der Historie der deutschen Presse: einen Anfang nach dem Ende der Hitler-Diktatur. Der von den Besatzungsmächten angeordnete Lizenzzwang für Zeitungsverleger, ob In Bayern, Hessen oder im Rheinland, ist im Sinne der von ihnen erstrebten Neuordnung eine unumgängliche Antwort auf den Untergang der reichsdeutschen Tagespresse. Eine Zäsur, die nötig ist, um die Glaubwürdigkeit der deutschen Zeitungen wieder herzustellen. Das ist geschehen.
Nach dem Programm der anglo-amerikanischen Informationspolitik in den westlichen Besatzungszonen entwickelt sich der Aufbau einer westdeutschen Presse in drei Abschnitten: Schließung aller Zeitungsbetriebe, Herausgabe von Blättern der Militärregierung (Armee-Zeitungen), Zulassung deutscher Zeitungen im Rahmen eines begrenzten Lizenzierungssystems zur „Umerziehung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus zur Demokratie“.
Wer nach Meinung oder Vermutung der Militärregierung dem Regime des Dritten Reiches gedient, es widerspruchslos geduldet und von ihm profitiert hatte, war nicht fähig, ein Amt zu bekleiden oder sein Eigentum (Druckerei, Verlag) zu verwalten; es wurde beschlagnahmt und zum Aufbau einer neuen demokratischen Presse Zwangspächtern übergeben.
Dazuschrieb Hans J. Reinowski, 1933 als Journalist und SPD-Mitglied von den Nationalsozialisten vertrieben, ins Ausland geflüchtet und als „Staatsfeind“ ausgebürgert, 1947 Lizenzträger und Chefredakteur des „Darmstädter Echo“:
„Von harten Bräuchen des totalen Krieges und der totalen Niederlage wurden auch die damaligen Zeitungsverleger betroffen, gleichviel, ob sie aktive Nationalsozialisten, ob sie Rechnungsträger und Mitläufer gewesen waren; oder ob sie sich den Gewaltansprüchen des Hitler-Regimes, die oft einer Entmündigung und Enteignung gleichgekommen waren, nur zähneknirschend gefügt hatten. Gleichviel auch, ob sie schon bei der Machtergreifung im Jahre 1933 dem wüsten Terror der rauen SA-Horden unterworfen worden waren, wie es in manchen Fällen geschehen war. Die Zeit der Distanz und Differenzierung war noch nicht eingeläutet“.
Mit diesem Rückblick, den Verleger Hans J. Reinowski 1969 „Zur Wiedergeburt der Pressefreiheit auf deutschem Boden“ publizierte, drängen sich auch Schicksale von Verlegern, Journalisten, Zeitungen und Zeitschriften während des Dritten Reiches auf. Die Nationalsozialisten schreckten vor keiner Art von „Gleichschaltung“, wie sie ihre Diktatur bezeichneten, zurück, um deutsche Zeitungen beherrschen zu können. Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels formulierte es so: „Die Presse ist das Klavier, auf dem die Regierung spielen kann!“
Zwei Verordnungen des Reichspräsidenten „Zum Schutz des deutschen Volkes“ schafften im Februar 1933 jede Art von Pressefreiheit ab. Es hagelte Verbote; zunächst für einige Tage, dann auf Dauer. Unter dem Titel „Lügenabwehrstelle“ richteten die Gauleiter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) bei ihren Gaupropaganda-Ämtern in ganz Deutschland Kontrollinstanzen ein. Ihre Aufgabe: Zeitungen und Zeitschriften auf offene oder versteckte Angriffe gegen das Hitler-System zu durchforsten. Mit Hilfe dieser Nachzensur praktizierten Funktionäre der Partei, vorwiegend auf dem Wege über Verwaltungsstellen des Staates, eine Überwachung mit Verboten und Beschlagnahmeverfahren.
So hatte das „Düsseldorfer Tageblatt“ am 3. März 1933 eine Rede des Diözesanpräses Gickler zitiert. Darin hieß es u.a.: „Es ist so etwas wie ein Rausch über Deutschland gekommen. Dabei droht über dem Nationalen ganz Deutschland zu Grunde zu gehen, Papst und Bischöfe haben den Nationalismus als eine Verderben bringende Pest bezeichnet“. Das Blatt wurde für mehrere Tage verboten. Begründung des Düsseldorfer Regierungspräsidenten: „Ungeheuerliche Verunglimpfung“.
Am 4. Mai 1933 befahl der preußische Innenminister, Hermann Göring, per Polizeifunk allen Regierungspräsidenten, „Sensations- und Skandalpresse sofort bis auf weiteres zu verbieten“. Sie leisteten „dem Kulturbolschewismus Vorschub“. Dem Verleger der „Westdeutschen Grenzpost“ im Kreis Geilenkirchen untersagte der Regierungspräsident von Aachen am 12. April 1933, in seinem Blatt den Untertitel „Amtliches Organ für den Kreis Geilenkirchen“ zu führen. Der Vertrag sei gekündigt. Hintergrund: Auf einer Besichtigungsfahrt in Holland und Belgien habe der Verleger „abfällige Äußerungen über Hitler“ gemacht.
Anfang Februar 1933 wurden 28 sozialdemokratische Zeitungen für die Dauer von drei bis vierzehn Tagen verboten, weil sie in Aufrufen die Machergreifung Hitlers angeprangert und die Bevölkerung aufgefordert hatten, sich mit allen legalen Mitteln gegen die Faschisten zu wehren. Beschwerden der Blätter gegen die Verbote lehnte der 5. Strafsenat des Reichsgerichtes in Leipzig „als unbegründet“ ab.
Im Sommer 1933, am 26. August, ließ der Regierungspräsident von Düsseldorf die Zeitschrift „Junge Frone“, ein Organ der katholischen Jugend, auf die Dauer von acht Wochen verbieten, weil sie „in hinterhältiger und gehässiger Weise Kritik an der Regierung geübt“ habe. Das „Schwarzwälder Volksblatt“, der „Albbote“ und das „Deutsche Volksblatt“ in Stuttgart wurden für zwei Wochen verboten wegen „unsachlicher Angriffe auf die Partei“. In Württemberg sind bis November 1933 siebzig Prozent der Heimatverlage dem Gauverlag der NSDAP mit Anteilen von 51 Prozent zugeführt worden.
Im Jahre 1937 gab es in Württemberg 92 Verlage mit 120 Zeitungen, berichtete Johannes Binkowski, von 1970 bis 1980 Vorsitzender des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger. „Von ihnen gehörten 65 voll oder mehrheitlich der Partei. In Privathand waren nur noch 55. Die Zahlen sagen an sich noch wenig aus, zieht man die Auflagen heran, so ergibt sich, dass die Auflage der Parteizeitungen 528.280 oder 76 Prozent betrug, die der privaten Zeitungen lediglich 167.680 oder 24 Prozent. In Baden lagen die Verhältnisse ähnlich.“
Der Verlagsinhaber der „Chemnitzer Volksstimme“, Georg Landgraf, wurde im März 1933 bei Durchsuchungen des Verlagshauses von SA-Leuten erschossen, nachdem er dem Anführer der „Sturm-Abteilung“ gedroht hatte, ihn rauswerfen zu lassen. Der Verleger des „Straubinger Tageblatt“, Georg Huber, wurde im Juni 1935 von der politischen Polizei in „Schutzhaft“ genommen; zuvor war das Blatt, Ende Mai 1935, für zwei Tage verboten worden.
Alle Welt erfuhr aus einem Bericht der „Neuen Züricher Zeitung“ im Dezember 1933, wie der Gauleiter der NSDAP und das NS-Blatt „Westdeutscher Beobachter“ versucht hatten, den Verlag M. DuMont Schauberg („Kölnische Zeitung“, „Kölner Stadt-Anzeiger“) zu „kaufen“. Entgegnungen des Verlages im „Stadt-Anzeiger“ und in der „Kölnischen Zeitung“ auf die Erpressungsversuche der NSDAP führten am 5. Dezember 1933 zur Beschlagnahme der Morgenausgaben durch den Kölner Polizeipräsidenten.
Nach offiziellen Statistiken sind im Jahre 1935 in Deutschland 1.592 Zeitungen und Zeitschriften nicht mehr erschienen, nachdem bereits 1934 3.298 Blätter verboten worden waren oder ihr Erscheinen eingestellt hatten. Eine Weisung des Reichspressechefs Dr. Dietrich vom 12. März 1939 ist eine unter Tausenden von Beispielen des Uniform-Journalismus mit Befehl, Gehorsam und Gefügigkeit im Dritten Reich. Sie lautete: „Morgen über die gesamte erste Seite dürfen nur Meldungen aus der Tschechoslowakei stehen; also weder Berichte über Heldengedenktage, noch Sport, noch sonstige Meldungen. Größte Aufmachung, größte Buchstaben, Überschriften ganzseitig: Erste Exemplare per Flugpost an Reichspressechef.“ Das war der propagandistisch gesteuerte Auftakt zum Einmarsch deutscher Truppen in der Tschechoslowakei.
Viele Journalisten sind nach Hitlers Machübernahme im Jahre 1933 ins Ausland geflüchtet. Unter ihnen Chefredakteur Theodor Wolff, Reporter Egon Erwin Kisch, Zeichner Fred Dolbin, Fotograf Erich Salomon, Friedrich Stampfer, Alfred Kerr, Gerhart Herrmann Mostar, Georg Bernhardt und Leo Gundelfinger. Andere wechselten in weniger auffällige Tätigkeitsbereiche als Drehbuchautoren, Werbetexter oder Mitarbeiter in Verbänden und Versicherungen.
Wer im Journalistenberuf tätig blieb, musste sich nach dem am 4. Oktober 1933 veröffentlichten Schriftleiter-Gesetz verpflichten, „aus der Zeitung alles fernzuhalten, was geeignet ist, die Kraft des Deutschen Reiches nach außen oder im Innern, den Gemeinschaftswillen des deutschen Volkes, die deutsche Wehrhaftigkeit, Kultur oder Wirtschaft zu schwächen“. Verlangt wurde zudem: „Gestaltung des Zeitungsinhaltes in eine in ihrem beruflichen Pflichten und Rechten vom Staat durch dieses Gesetz geregelte Aufgabe. Ihre Träger heißen Schriftleiter.“ Reichsminister Dr. Goebbels kommentierte das Gesetz: Es wäre politischer Wahnsinn, wen man einzelnen Individuen die absolute Freiheit des Geistes und der Meinung garantieren wolle. Dabei nehme die Freiheit eines ganzen Volkskörpers immer mehr Schaden.
Dieser nur bruchstückartige Rückblick auf die Geschichte der total gelenkten deutschen Presse von 1933 bis 1945 gehört auch zum Anfang einer neuen Zeitungsgeschichte nach Ende des zweiten Weltkrieges.